Der Lautheitskrieg

DER LAUTHEITSKRIEG (engl. „LOUDNESS WAR“)

Für die meisten Menschen ist das Hören aufgenommener, produzierter Musik ein selbstverständlicher Teil ihres Alltags – ob in Aufzügen, im Auto, in der Küche oder in einer Bar. Dennoch nehmen wenige Konsumenten ein kritisches Verhältnis zu Qualität und Klangtreue von Tonaufnahmen ein. Musikschaffende bedienen sich verschiedener Klangwerkzeuge und Stilmittel, um ihrer musikalischen Vision Ausdruck zu verleihen. Tonfolge, Rhythmik, Geschwindigkeit, Harmonie, Klangfarbe oder die dynamisch wechselnden Tonstärken der gespielten Klänge.

Doch der durchschnittliche Musikhörer ist sich oft nicht dessen bewusst, dass verschiedene Lautstärken, ein dynamisches Kontrastspiel aus leise und laut (und allen Zwischenstufen), in der modernen Popmusik seit vielen Jahren praktisch nicht mehr existiert. Moderne Musik hat einen konstant nahezu gleichen Durchschnittspegel, ist also durchgehend gleich „laut“. Doch Lautstärke existiert in erster Linie nicht absolut, sondern relativ. Es gibt keinen Schatten ohne Licht. Erst der Einsatz unterschiedlicher Tonstärken hat einen dramaturgischen, emotionalen Effekt.

Das menschliche Gehör hat einen Dynamikumfang von ca. 130 dB (SPL), d.h. von der Hörschwelle bis zur Schmerzschwelle (z.B. ein Gewehrschuss). Eine Audio CD hat einen (sinnvoll) nutzbaren Dynamikumfang von ca. 90 dB. Doch dieser Umfang wird bei weitem nicht ausgereizt – durch analoge und digitale Bearbeitung mit Kompressoren und Limitern, durch Sättigung oder Clipping, werden im Produktionsprozess gerade die lautesten Stellen – die Pegelspitzen (engl. Peaks) – gewissermaßen „unterdrückt“, „zerquetscht“ und „wegrasiert“. Warum dieser Aufwand? Warum gilt nicht das Gesetz: „die Dynamik der Musik ist unantastbar?“ Nun, um diese Fragen zu beantworten ist erst Aufklärung über allgemeine Hintergründe notwendig.

Seit sich digitale Aufnahme- und Wiedergabetechnik mit der Einführung der CD in den 80ern langsam durchgesetzt hat, gelten andere Gesetze als in einer traditionellen analogen Aufnahme-Umgebung. Digitale Medien sind auf eine maximale Lautstärke von 0 dBfs begrenzt, alle möglichen Pegel werden als negative dB-Werte angegeben. Überschreitet ein Signal diese Clipping-Grenze, übersteuert man also, treten abrupt unangenehme Verzerrungen auf (der Sound wird dann „kratzig“, „harsch“, klingt „zerstört“). Analoge Technik weist bei ansteigendem Pegel ebenfalls zunehmend Verzerrungen auf, allerdings klingen diese bis zu einem bestimmten Punkt angenehm und es gibt einen mehr oder weniger großen Sättigungsbereich, der ästhetisch genutzt werden kann. Während bis Mitte der 80er die meisten Pop- und Rock CDs noch eine akzeptable Dynamik aufwiesen und nicht durchgehend bis zur 0 dB – Grenze ausgeseteuert wurden (durchschnittlicher Pegel in RMS: -18 dB), so wurden Produktionen seit Mitte der 90er mit verschiedensten technischen Mitteln zunehmend in ihrem Dynamikumfang begrenzt, um die Lautheit zu erhöhen und die „Substanz“ der Musik höher aussteuern zu können, d.h. näher an die Clipping-Grenze zu bringen. Durchschnittliche RMS-Pegel von -10 dB wurden zur Norm. Seit den 2000ern sind RMS-Pegel von -6 dB keine Seltenheit mehr – die Wellenform heutiger Musik sieht aus wie ein einziger Block, es gibt keine Dynamik mehr, keine Ausschläge.

Hier zum Vergleich zwei Wellenformen einer Pop-Produktion: das erste Bild zeigt die dynamische Mischung, mit klar erkennbaren Transienten/Pegelspitzen; das zweite Bild zeigt einen typischen dynamik-reduzierten Master – die Transienten wurden zugunsten höherer Durchschnittslautheit limitiert und geclipped.

Dynamische Wellenform
Dynamische Wellenform
Undynamische Wellenform
Undynamische Wellenform

Der als Lautheitskrieg bekannte Sachverhalt um den es hier geht, ist im Grunde eine Geschichte des Wettbewerbs, der marktwirtschaftlichen Konkurrenz. Viele Musiker, Tontechniker und Funktionäre von Plattenfirmen waren und sind der Überzeugung: lauter = besser. Es geht im Grunde also um einen (umstrittenen) psychologischen Vorteil – der Hörer soll durch Tonaufnahmen, die im Vergleich zur Konkurrenz besonders eindrucksvoll und laut sind, zu Aufmerksamkeit und letzlich zum Kauf der neuesten Single „gezwungen“ werden. Prinzipiell haben sie als Hörer die Wiedergabelautstärke aber buchstäblich selber in der Hand – indem sie schlicht und ergreifend den Laustärkeregler in die eine oder andere Richtung drehen. Die kommerzielle Musikindustrie will sie aber bevormunden und es nicht ihnen überlassen, wann sie leiser oder lauter drehen. Deswegen werden die teilweise sehr aufwendigen und teuren Tonaufnahmen bei der finalen Mischung und dem anschließenden (Pre-)Mastering, meist im Auftrag der Plattenfirma, oft aber leider auch im Sinne des Künstlers oder der Produzenten, solange in die Mangel genommen, bis nur noch eine Dynamik von 6-10 dB übrig ist. Der Unterschied von leise und laut verschwindet und die mögliche durchschnittliche Lautheit einer CD nimmt zu.

Doch dies geschieht offensichtlich auf Kosten der eigentlichen Qualität der Aufnahme, auf Kosten der Lebendigkeit des künstlerischen Werkes. Durch den extremen Einsatz von Hard- und Software für Kompression, Limiting und Sättigung, wird die Natur von Musik mitunter sogar ins Gegenteil pervertiert. Weil die druckvollen und energiereichen Stellen einer Aufnahme sozusagen zum „Feind“ erklärt werden, leiden gerade die Akzente – Refrains, knallige Trommelschläge oder gesangliche Gefühlsausbrüche. Diese werden nämlich buchstäblich zerdrückt und zerfetzt, bis nur noch eine drucklose Klangmasse übrig bleibt.

Als Veranschaulichung: stellen sie sich einen Sänger vor, der in einem Vers ganz sanft und flüsternd singt – über die Trauer, dass ihn seine Liebste verlassen hat. Im Chorus singt er dann voller Imbrunst und mit ganzer Seele, er schreit regelrecht, er will sängerisch unterstreichen, dass sein Herz blutet. Welche Stelle müsste sie jetzt wohl eher aus dem Lautsprecher heraus „anspringen“? Welche Stelle müsste sie eher vereinnahmen? Richtig, der Chorus. Doch in Zeiten des Loudness War ist es oftmals genau umgekehrt. Die leisen Stellen legen im Verhältnis zu den lauten Stellen an Energie zu, sie rücken akustisch „nach vorne“.  Die Stellen die von der künstlerischen Intention her darauf angelegt sind herauszustechen, verschwinden in einem einzigen Matsch.

Das hätten sie natürlich alles längst selber bemerkt, wenn es nicht psychoakustische Tricks gäbe um die Schattenseiten der Dynamikreduktion zu kaschieren, zu „vertuschen.“ Im Normalfall setzen nämlich im Chorus neue Instrumente ein – Melodie, Rhythmik und Klangfarbe ändern sich und „helfen“ dem Hörer dabei, den Chorus als aufregend und energetisch zu empfinden. Auch durch Dopplung des Gesangs, d.h. indem mehrfach der gleiche Gesangspart aufgenommen und übereinanderlegt wird, indem Instrumente gezielt mit harmonsichen Obertönen anreichert wird, usw. kann die gefühlte Lautheit weiter erhöht werden. Doch durch die beschriebenen tontechnischen Manipluationen wird die Musik zwar verdichtet, sie wirkt laut, aber die eigentlichen „Highlights“ verschwinden dennoch im Klangteppich und die Musik verliert alle Nuancen und Subtilitäten, jene Schattierungen, die sie erst so emotional machen. Im Übrigen bereitet Musik, die heftig komprimiert wurde und keine Dynamik mehr hat Kopfschmerzen und führt zu Ermüdungserscheinungen beim Hörer. Die Musik „atmet“ nicht mehr natürlich, sie klingt wie aggressives Rauschen und wird bewusst oder unbewusst zur Lärmbelästigung. Denken sie also darüber nach, wenn sie das nächste Mal bei einer langen Autofahrt das Radio aufreißen. (Im Übrigen setzen Radiostationen wiederum Geräte wie Orban’s Optimod ein, um die Musik sowohl vom Frequenzgang als auch von der Dynamik her NOCH weiter einzuschränken und sie den Anforderungen der Übertragung anzupassen.)

Erfolgreiche Produzenten und Mixer unterwerfen sich oft während des gesamten Produktionsprozesses dem Lautheitsdiktat. Bestimmte Instrumente eignen sich nun mal besser dazu,  komprimiert und limitiert zu werden. Spezielle Samples setzen sich besser in einem dichten Arrangement durch. Der künstlerischen Freiheit sind im kommerziellen Bereich starke Grenzen gesetzt. Musikstile, die vorwiegend auf synthetische Sounds und virtuelle Klangerzeuger zurückgreifen (z.B. Elektro oder HipHop) eignen sich weitaus besser laut gemischt und gemastert zu werden als „natürlichere“ Stile wie Blues, Klassik, Rock oder Folk. Denn eine knallige Rocksnare eines Drumsets muss nun mal dynamisch sein, der erwünschte Druck lässt sich aber kaum bis zum finalen Produkt erhalten und erfordert viel Aufwand bei der Auswahl der richtigen Trommel, der richtigen Mikofone für die Aufnahme usw. Ein synhetischer, greller „Zischsound“ anstelle der Snare, wie er etwa im EDM-Bereich häufig anzutreffen ist, kann genau so eingestellt werden, dass er von vorneherein wenig Dynamik und gleichzeitig eine auffällige, laut wirkende Klangfarbe hat. So ein Sound muss also gar nicht erst so „zerstört“ werden.  Anders ausgedrückt: manche Musikrichtungen, eine bestimmte Auswahl an Sounds wird vom Lautheitskrieg indirekt begünstigt. Ist das ein zusätzlicher Grund für den Erfolg von Elektro-Pop, Dance, Techno und HipHop? Wenn eine Rockband mit einem lauten synthetischen Technostück konkurrieren will, bleibt ihr nichts anderes übrig als E-Gitarren immer noch aggressiver abzumischen, den Gesang zu verzerren und den Drums durch zu starke Kompression das Leben auszusaugen. Das so etwas der Popularität von Rockmusik nicht zuträglich sein kann, ist verständlich. Ein Sänger, der vor sich hin säuselt und nie ausbricht, kann tontechnisch oft besser und eindrucksvoller in Szene gesetzt werden, als ein dynamischer Soulsänger, der gerade bei lauten Parts regelrecht gegen eine technische Wand singt, die er nicht durchbrechen kann. Achten sie doch mal, wenn sie wieder Musik hören, genauer auf solche Details – auf die eintönige Homogenität des Gesangs, auf den mangelnden Druck des Schlagzeugs.

Damit komme ich nun auch noch auf eine anderes Phänomen in diesem bedenklichen Zusammenhang zu sprechen: das veränderte Hörverhalten der Masse. Musik wird nicht mehr bewusst und kritisch gehört, z.B in einem Wohnzimmer über eine vollwertige Stereoanlage wie es in den 70er oder 80ern noch üblich war – sondern als Nebenberieselung im Zug, im Auto oder beim Joggen über klanglich minderwertige Abspielgeräte mit extrem eingeschränktem Frequenzgang und mangelnder Impulstreue. (Laptops, billige PC-Lautsprecher, Handylautsprecher etc.) Durch die mp3/aac-Datenkompression ist die Klangqualität noch weiter verringert.  Durch jahrelange gezielte Vermarktung fragwürdiger Audiosysteme und Wiedergabegeräte hat sich also die Hörqualität eher verschlechtert. Heutige Hörgewohnheiten lassen ein nuanciertes Hören und ein kritisches Urteil oft gar nicht mehr zu. Auf einem popeligen Laptoplautsprecher kann man weder die schönen Aspekte wirklich genießen, noch fallen die hässlichen Klangartefakte ins Gewicht, da die Musik sich ohnehin nur wie ein einziges Rauschen anhört. Kopfhörer sind auch nicht die wahre Lösung – zum einen weil sie schnell das Trommelfell schädigen und zum anderen weil die verbreiteten Billigprodukte auch nur eine geringfügig bessere Klangqualität liefern. Die heutige Jugend ist nie wirklich in den Genuss gekommen in einem technisch akzeptablen Umfeld Musik zu hören, d.h. sie wissen gar nicht was ihnen entgeht und sind so auf Mobilität und den Gebrauch von Ipods und co. konditioniert, dass eine Änderung ihres Konsumverhaltens wohl nicht zu erwarten ist. Wenn Jugendliche überhaupt auf großen, halbwegs qualitativen, verzerrungsfreien Systemen hören, dann in Diskotheken oder Clubs. Dort wird Musik aber – meistens in Mono – absurderweise so laut abgespielt, dass sie letztlich noch mehr verzerrt und man regelrecht aus den Ohren blutet – potenzieller Hörgenuss ade.

Der Lautheitskrieg und das heutige Hörverhalten tragen maßgeblich zur Entwertung von Musik bei – sie ist überall… und das abstoßender denn je. Ob sie die qualitativen Einbußen moderner Mischungen und Master für relevant erachten, ob sie ein Problem damit haben, dass man die Musik eines Stilmittels beraubt hat, das ist ihrem Urteil überlassen. Heutige Musik ist jedenfalls zu einem Fetisch verkommen. (Was vordergründig auch auf strukturelle sozioökonomische Veränderungen zurückzuführen ist) Es geht nur noch um Clichées, stupide Phrasen die sich ins Gedächtnis fressen und um marktschreierische Lautheit. Ich für meinen Teil sehne mich nach einer Erstarkung der Überzeugung: ars gratia artis. 

Quellen:

Boeing, Niels / Reinecke, Jochen 2012: Loudness War – Volle Dröhnung, Zeit Online: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2012/02/Loudness-War

Jones, Sarah 2005: The Big Squeeze – Mastering Engineers Debate Music’s Loudness Wars, Mix Online: http://www.mixonline.com/mag/audio_big_squeeze

Campbell, D.R. 2011: Aspects of Human Hearing, University of the West of Scotland: http://media.paisley.ac.uk/~campbell/AASP/Aspects%20of%20Human%20Hearing.PDF

2013: http://de.wikipedia.org/wiki/Loudness_war

2013: http://www.dynamicrange.de/de/de/unser-ziel

2 Antworten auf „Der Lautheitskrieg

Add yours

  1. Hey,
    ich bin über diesen Beitrag gestoßen, da ich demnächst eine Rede halten muss und ich habe mir das Thema „Commercialization of Music“ ausgesucht. Tja, dies ist nun nicht ganz mein Thema, aber umso interessanter. Ich bin im jugendlichen Alter und obwohl ich durchaus „alte“ Musik habe (meine älteste Aufnahme sollte Robert Johnson sein), ist mir noch nicht aufgefallen, dass Musik derartig komprimiert wird. Das liegt wohl daran, dass ich den direkten Vergleich einfach nicht habe.

    Als passionierter Hörer musste ich das aber natürlich verifizieren und wie tut man das am Besten? Indem man eine Band wählt, die ihr letztes Album per Crowdfunding finanziert hat und somit frei von irgendwelchen Einflüssen produzieren kann, was sie will. Außerdem sollte man natürlich in ein Genre gucken, das nicht ohnehin jegliche Vielfalt verloren hat. Ich weiß nicht, ob du Protest The Hero kennst (ich erlaube mir das unförmliche „du“, denn wer so schön über Musik schreibt, muss cool drauf sein!). Progressive Metal, nicht jedermanns Sache, aber ich musste klarstellen, dass ich jemanden wähle, der gute Musik produziert (Prog Metal ist kein Gebrüll! PTH spielen höchst anspruchsvolle Musik und der Gesang ist Gesang, größtenteils). Leider muss ich deinen Bericht bestätigen, schade um die Musik. Ich wählte Skies, da es mit einem ruhigen Teil anfängt und der ist auf der gleichen Lautstärke wie die lauteren Stellen… und jetzt signalisiere ich auch, dass es gedämpft klingt. Grmpf, was wird in diesem Jahrhundert nur aus der Musik? Gedämpfte Töne, mehr Busen als Töne und von Lyrik kann man bei vielen Pop Songs nur noch mit schmerzender Miene reden…

    Trotzdem danke für das Öffnen meiner Augen!

Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle kostenlos eine Website oder ein Blog auf WordPress.com.

Nach oben ↑